Freude statt Angst

Diese Mutter muss – anfangs mühsam – lernen, mit gleich drei problematischen Diagnosen ihres Sohnes umzugehen.

Im Alter von 10 Jahren (2013) bekam mein Sohn einen VP-Shunt. Dabei handelt es sich um eine chirurgisch geschaffene Verbindung zwischen bestimmten Bereichen des Gehirns und der Bauchhöhle zur Ableitung von Gehirnflüssigkeit. Nach vielen Untersuchungen stand fest, dass seine Hirndruckdaten nachts – und nur nachts – viel zu hoch waren. Nach der OP hatte ich mein „altes“ Kind wieder – Kopfschmerzen, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme und Blackouts gehörten der Vergangenheit an. Etwas mehr als ein Jahr später (Dezember 2014) traten leider diese Probleme wieder auf und meinem Sohn ging es schlecht. Nach neuen Untersuchungen stand fest, dass eine Monroiblockade, eine Blockade bestimmter Bereiche im inneren des Gehirns, und eine Übertrainage, also ein übermäßiger Abfluss von Gehirnflüssigkeit, vorlagen. Das hieß, dass eine erneute OP durch den Neurochirurgen im Februar 2015 erforderlich war. Nach dieser OP trank mein Sohn innerhalb von vier Stunden 3,5 Liter Wasser und er musste ganz oft Wasser lassen. Uns wurde erklärt, dass die Hypophyse „gereizt sei“ und er deshalb das Medikament Minirin bekäme. Diese Reizung würde aber innerhalb von ein paar Tagen zurückgehen.

Zwei Tage später hatte ich mich dann im Krankenhaus mit dem Noro-Virus infiziert und meinen Sohn ebenfalls angesteckt.
Nach einem nächtlichen Krampfanfall ging es ihm dann so schlecht, dass er auf die Intensivstation musste. Nach einem zweiten Krampfanfall waren seine Werte dermaßen schlecht, dass die Ärzte ihn nur durch ein künstliches Koma am Leben erhalten konnten.
Schockiert und total überfordert gingen zuerst einmal sämtliche Diagnosen an mir vorbei. Ich sah nur meinen Sohn und hatte furchtbare Angst um ihn. Nie zuvor war ich auf einer Intensivstation gewesen…, der Schock saß tief.
 

Die Diagnosen
Nach zwei Wochen bekamen wir dann die Diagnosen Hypophyseninsuffizienz und Diabetes insipidus centralis. Von einer Reizung war jetzt nicht mehr die Rede, sondern von einer Schädigung. Ich habe mir die Diagnosen angehört und nur gedacht: „Und was ist das alles? Noch nie gehört! Geht das wieder weg? Ist das gefährlich?“

Die behandelnden Ärzte waren allesamt sehr nett und haben mich sehr gut aufgeklärt. Fakten hatte ich nun viele. Aber wer bitteschön kümmert sich um das Chaos in meinem Kopf? Ich war total erschlagen und verängstigt. Wir wurden aus dem Krankenhaus entlassen und mussten umgehend mit einer Kinder-Endokrinologin Kontakt aufnehmen. Das war, Gott sei Dank, eine uns bekannte Kinderärztin. Sie hat sich sehr viel Zeit für uns genommen und uns weitgehend alle Fragen beantwortet.

Fakten bekam ich auch jede Menge aus dem Internet. Aber nach wie vor gingen mein Sohn und ich durch ein „Tal der Tränen“. Bei uns beiden war die Gefühlswelt absolut entgleist. Krankheiten, von denen wir noch nie gehört hatten, sollten von nun an zu unserem Alltag gehören. Wie sollten wir das umsetzen? Medikamente nehmen ist eine Sache, mit den ganzen Gefühlen umzugehen, eine ganz andere.

Während des ersten Jahres der Erkrankung habe ich mich dann viel mit der ganzen Thematik auseinandergesetzt und auch mit anderen Fachärzten darüber gesprochen. Nach knapp neun Monaten musste ich mich dann mit dem Gedanken anfreunden, dass bei der OP im Februar 2015 nicht alles so gelaufen war, wie es sollte.

Während der oben genannten OP wurde zusätzlich eine endoskopische Sichtung des 3. Hirnventrikels vorgenommen. Durch diese Sichtung wurde die Kommunikation zwischen Hypothalamus und der Hypophyse zerstört, verschiedene Hormonachsen sind dadurch komplett ausgefallen. Daher muss mein Sohn nun all diese Hormone lebenslang mit Tabletten oder Spritzen ersetzen.

Währenddessen mussten wir auch herausfinden, was es hieß einen „normalen“ Alltag zu leben. Wie gefährlich sind diese Krankheiten? Was ist ein Notfall? Was muss ich generell beachten? Kann ich meinen Sohn alleine lassen?

Wie oft saß ich heulend am PC, wenn ich einfach nur verunsichert war… Wie erleichtern wir uns unseren Alltag? Wie schaffen wir es mit unseren Ängsten umzugehen?   ...

Neue Hoffnung durch den Austausch mit anderen Betroffenen
Während meiner Zeit in einer Online-Gruppe durfte ich feststellen, dass sich genau diese Fragen alle Eltern mit erkrankten Kindern stellen. Ein Austausch über Erfahrungen und Notfallsituationen hat mir hier gezeigt, dass wir nicht alleine waren.

Nach etwas mehr als einem Jahr war ich soweit, dass ich trotz alledem wieder optimistischer in die Zukunft schauen konnte. Natürlich war ich am Anfang sehr, sehr vorsichtig. Ich habe eher zweimal überlegt, ob meinem Sohn eine Übernachtung bei Freunden guttun würde. Ob er in der Lage sein würde seine Arznei pünktlich zu nehmen, es nicht zu anstrengend für ihn werden würde … und vieles mehr.
Wir haben in der Schule, beim Sport und im Bekanntenkreis offen über seine Krankheit geredet und Notfallpläne verteilt. Dadurch konnten wir die Unsicherheit im Umfeld minimieren. Denn vielen ging es wie uns am Anfang. Es bestand große Unsicherheit und Angst im Umgang mit meinem Sohn.

Nach mittlerweile fünf Jahren weiß ich, dass mein Sohn seine Krankheit sehr gut im Griff hat. Schon nach kurzer Zeit nahm er eigenständig seine Arznei und hat auf seinen Körper „gehört“. Dadurch, dass er wusste, wie es sich anfühlt gesund zu sein, konnte er sehr schnell und intensiv spüren, wenn seinem Körper z. B. Cortisol gefehlt hat.
Im Laufe der Zeit wurde die Angst vor einem Notfall auch viel geringer. Wir lernten zu handeln und konnten so auch gut mit Notfällen (Magen-Darm-Infekt, heftige Migräne-Attacke) umgehen.
Durch intensive Gespräche haben wir beide gelernt, dass vieles machbar ist und Tränen genauso wie Lachen zum Leben gehören.

Schwer war für mich umzusetzen, dass mein Sohn viele Dinge machen wollte und will, was auch gesunde Kinder und Jugendliche in seinem Alter machen.
Sei es im Sport (Kickboxen, Fitness-Studio), in der Freizeit (z. B. Achterbahnfahren) oder das Reisen. Stoppschilder wollte mein Sohn keine sehen.
Hier hieß es dann im Vorfeld viel planen. Wie muss das Hydrocortison dosiert werden, damit der Körper mit der jeweiligen Anstrengung zurecht kommt? Planen war das eine, ausprobieren dann das andere. Im Laufe der Zeit fiel dieses Abwägen und Umsetzen der HC-Dosierung in den unterschiedlichsten Situationen immer leichter.
Auch in Absprache mit unseren Ärzten sollten wir ausprobieren, da gerade in unserer Altersgruppe schlichtweg die Erfahrungen fehlen. Am Anfang empfand es mein Sohn noch als sehr anstrengend auf seinen Körper zu achten. Mittlerweile hat er ein sehr gutes Körpergefühl und kann umgehend und sehr sorgfältig seine Arznei dosieren.
Im letzten Jahr war mein Sohn zum Schüleraustausch (vier Wochen) in Amerika und hat diese Zeit sehr genossen. Auch hier war im Vorfeld die Planung das A und O.                                          Wichtig ist immer eine Klinik vor Ort zu haben, die sich mit den Erkrankungen auskennt. Auch einen Notfallplan in der jeweiligen Landessprache sollte stets dabei sein. Nicht jeder Arzt kann Englisch!
Spontan handeln ist mit dieser Erkrankung nicht möglich. Das musste mein Sohn verstehen und akzeptieren lernen. Aber mit viel Planung und einem guten Körpergefühl kann fast alles gemacht werden.

Alles in allem kann ich sagen, dass ich gelernt habe mit diesen Erkrankungen umzugehen. Die Angst dominiert nicht mehr, sondern die Freude am Leben. Die Medizin entwickelt sich immer weiter und dank Internet ist ein weltweiter Austausch möglich.

Mein Fazit: Offen mit der Erkrankung umzugehen erleichtert den normalen Umgang im Alltag und ist in Notfällen lebenswichtig.
Es ist sehr, sehr wichtig, das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen in sich und ihren Körper zu stärken.
Der persönliche Austausch mit anderen Betroffenen ist sehr hilfreich und lernt uns Eltern, unsere Kinder so normal wie irgend möglich erwachsen werden zu lassen. Denn gerade Normalität ist in der Pubertät megawichtig.
Mein Sohn hat eine seltene Erkrankung. Trotzdem kann, will und darf er soweit es geht normal durchs Leben gehen.

Was die Zukunft bringt, wissen wir nicht. Ich weiß aber, dass ich meinen Sohn irgendwann beruhigt in die Welt ziehen lassen kann.