Europaweite Umfrage zu MEN (Multiple endokrine Neoplasie)

Hintergrund

Die multiple endokrine Neoplasie (MEN) gehört zu den autosomal dominant vererbbaren Tumor-Syndromen. Ein erkrankter Elternteil vererbt die Krankheit also, statistisch gesehen, an die Hälfte seiner Kinder. MEN beinhaltet die Entwicklung von gutartigen und bösartigen endokrinen Tumoren. Durch gezielte Untersuchungen ist eine Frühdiagnose und gegebenenfalls Heilung der bösartigen Tumore möglich.

Das auch Wermer-Syndrom genannte MEN 1 ist durch Tumore der Nebenschilddrüsen, der Hypophyse und der Bauchspeicheldrüse gekennzeichnet. Kennzeichen von MEN 2, auch MEN 2A genannt, sind ein medulläres Schilddrüsenkarzinom, ein Phäochromozytom (ein die Hormone Noradrenalin und Adrenalin produzierender Tumor) und ein primärer Hyperparathyreoidismus (Nebenschilddrüsen-Überfunktion). Nicht jedes betroffene Familienmitglied entwickelt das volle Krankheitsbild im Laufe des Lebens. Sie sind weder hinsichtlich der Ursache noch zeitlich voneinander abhängig, das Auftreten an zwei oder mehreren Stellen im Körper ist jedoch typisch. Die Tumore sind durch ihren hormonellen Überfunktionszustand charakterisiert. Daneben werden aber auch hormoninaktive Tumore und Veränderungen an nicht hormonproduzierenden Organen beobachtet. MEN 2 B (auch MEN 3 genannt) und das MEN-4-Syndrom sind noch seltener.

Die Multiple Endokrine Neoplasie ist auch allgemein ein seltenes Krankheitsbild. Es hat in der Bevölkerung eine Häufigkeit von 1:50.000.

Die Befragung

Verantwortlich für die im Jahr 2018 durchgeführte Befragung zeichnet EMENA, die 2016 gegründete „Europäische MEN Allianz“. Sie ist die Vertretung der europäischen MEN-Patientengruppen.

Die Seltenheit der Erkrankung macht es nicht einfach, eine aussagekräftige Umfrage durchzuführen. Bekannt gemacht wurde die Befragung durch die Mitgliedergruppen der EMENA in England, Belgien, in den Niederlanden, in Italien und Deutschland, hier durch das Netzwerk, und durch assoziierte französische Gruppen. Außerdem wurde die Verbreitung durch ENDO-ERN, dem Europäischen Referenznetzwerk für seltene endokrinologische Erkrankungen, und Organisationen für seltene Erkrankungen in 20 europäischen Ländern gefördert. Es sind auch soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter eingesetzt worden.

Die Befragung wurde auf Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch und Deutsch angeboten.

Durch diesen enormen Aufwand konnte die beachtliche Zahl von 290 Antworten erreicht werden. Die meisten Antworten kamen aus England (104), gefolgt von Italien (56), Niederlande (46) und Deutschland (34).

Ergebnisse

Die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden durch eine Patientengruppe auf die Befragung aufmerksam (172 Personen). Das Internet (58) und der behandelnde MEN-Spezialist (39) wurden an zweiter und dritter Stelle genannt. Teilnehmerinnen waren in der Überzahl (197:93).

Der Großteil der Befragten leidet unter MEN 1 (203), gefolgt von MEN 2A (67) und MEN 2B (19). Nur eine Person leidet unter MEN 4.
Hinsichtlich des Alters sind folgende Gruppen am stärksten vertreten: 31-40 (50), 41-50 (78), 51-60 (74) und 61-70 (43).
Die Diagnose erfolgte meist wegen MEN-bezogener endokriner, also mit dem Hormonsystem verbundener Tumore und eines Gentestes (207). Die Diagnose wegen eines Gentestes aufgrund eines von MEN betroffenen Familienmitgliedes ohne eigene Symptome oder entdeckte Tumore stand an zweiter Stelle (66).

Im Mittel dauerte es zwei Jahre von den ersten MEN-bezogenen Symptomen bis zur Diagnose von MEN. Bei den häufig genannten ersten MEN-Symptomen handelte es sich teils um unspezifische, also schwer einzuordnende Symptome wie Erschöpfung (68) und Kopfschmerzen (36). Es wurden aber auch oft Nierensteine (61), Durchfälle (38), Lymphknoten (37) und Harndrang (18) genannt.

Im Durchschnitt wurden 2 Ärzte bis zur korrekten Diagnose aufgesucht. Meist erfolgte die Diagnose des ersten MEN-bezogenen Tumors durch einen Endokrinologen (163), was die Notwendigkeit der Aufsuchung eines Spezialisten unterstreicht. Mit weitem Abstand folgt der Chirurg (29), dann erst der Hausarzt (13). Bei der Diagnose des MEN-Syndroms schließlich ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier steht ebenfalls der Endokrinologe (173) mit weitem Abstand an erster Stelle, gefolgt allerdings vom Genetiker (62).
Durchschnittlich 4 Familienmitgliedern wurde ein MEN-Test angeboten, bei 2 wurde die Erkrankung diagnostiziert. Unter den betroffenen Familienmitgliedern waren vor allem Eltern (156), Geschwister (114) und eigene Kinder (101). Die eigenen Kinder wurden mehrheitlich getestet (160:112).

Hinsichtlich der persönlichen Gesundheit führte man Blut- und Urintests meist alle 6–12 Monate durch (222). Verantwortlich für die MEN-Kontrolle ist mit überwältigender Mehrheit der Endokrinologe (232). MEN-bezogene Arztbesuche finden ebenfalls meist alle 6–12 Monate statt (234). Erfreulicherweise ist der behandelnde Spezialist in der Mehrheit der Fälle Angehöriger eines Referenzzentrums (194). Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit, in Deutschland solche Referenzzentren zu bilden. Dort existieren sie noch nicht.

Wichtige Angehörige von Gesundheitsberufen, die neben dem Endokrinologen in Bezug auf die MEN-Erkrankungen aufgesucht wurden oder werden, sind der Hausarzt (187), der Chirurg (141), der Genetiker (105), der Onkologe (63) und die Endokrinologie-Assistentin (59). Hierzu ist festzuhalten, dass in Deutschland leider zu wenige Endokrinologie-Assistentinnen tätig sind.

Meist ist der behandelnde Spezialist in ein fächerübergreifendes Team eingebunden (202). Röntgenaufnahmen werden zum größten Teil alle 12 Monate durchgeführt (120), wobei auch jeweils eine größere Gruppe mit der Angabe „alle 6 Monate“ (53) und „alle 2 Jahre“ (48) existiert.

Die Dauer, um den behandelnden Arzt aufzusuchen, ist mit im Schnitt 60 Minuten für eine Strecke beachtlich lange. Positiv ist hingegen zu verzeichnen, dass die große Mehrheit (219) mit der Zeit zufrieden ist, die ihnen beim Arzt dann zur Verfügung steht. Die Anzahl Betroffener, die Zugang zu einer Endokrinologie-Assistentin haben, ist in etwa ausgeglichen (121:119).
Mehrheitlich wird das Niveau der erhaltenen MEN-Behandlung als „gut“ (124) oder „hervorragend“ (85) eingestuft. 55 stufen sie als „durchschnittlich“ ein, 19 als „schlecht“, 7 als „sehr schlecht“.

Auch in den Details zeigen sich überwiegend positive Werte:

  • Aussage a): „Ich habe das Gefühl, dass mir das für meine MEN-Erkrankung zuständige Team zuhört.“
    Dies bejahen 133, 102 bejahen es sogar absolut, unentschieden sind 37, 13 widersprechen, 5 widersprechen vollständig.
  • Aussage b): „Ich fühle mich in die Entscheidungen für meine MEN-Gesundheit einbezogen.“
    Hier stimmen 93 zu, 137 voll und ganz, neutral sind zu dieser Aussage 41 eingestellt, ablehnend und vehement ablehnend 10 bzw. 7.
  • Aussage c): „Ich glaube, dass mein Team kompetent in der Behandlung und Kontrolle von MEN ist.“
    Auch für diese Aussage c.) zeigt sich eine ähnliche Verteilung: Zustimmung (119), absolute Zustimmung (125), weder noch (29), ablehnend (10) und völlig ablehnend (7).
  • Vertrauen in das Team (d)) haben 115, völlig Vertrauen 123, neutral sind 33 eingestellt, ablehnend 14, nachhaltig ablehnend 5.
  • Ein wichtiger Punkt ist die Adhärenz, früher Compliance genannt (e)), die Bereitschaft, den Anweisungen des medizinischen Teams zu folgen.
    Dies machen nach eigenen Angaben prinzipiell 163 Befragte, 105 uneingeschränkt, 18 sind unentschieden. lediglich 3 widersprechen, nur 1 Person widerspricht vollständig.

Die Bedeutung der Selbsthilfe ist für eine solche gravierende und zugleich seltene Erkrankung, über die insofern auch nur schwer laienverständliche Informationen zu finden sind, nicht zu unterschätzen. Immerhin 165 der Befragten wurde vom medizinischen Team eine Patientengruppe empfohlen, was aber sicher noch ausbaufähig ist.

Der große Bedarf zeigt sich schließlich darin, dass 239, also 82,49 %, Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe aufgenommen haben. Unter denjenigen, die „nein“ angegeben haben, sind 23, die ankreuzten, keinen Bedarf zu haben. Jeweils 21 wurde aber nichts von einer Gruppe mitgeteilt oder es existiert keine in ihrem Land.

Resümee

Es ist nun erstmals gelungen, eine umfassende europäische MEN-Umfrage durchzuführen. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung und da Register, sofern sie im jeweiligen Land überhaupt existieren, strengen Datenschutzbestimmungen unterworfen sind, ist die Anzahl der Befragten naturgemäß deutlich begrenzt. Eine Zahl von 290 ist insofern bereits sehr beachtlich. Den Ergebnissen kann eine hohe Aussagekraft bescheinigt werden. Aufgrund der Form der Rekrutierung ist es allerdings möglich, dass die befragten Patientinnen und Patienten etwas besser als der Durchschnitt informiert sind.

Vieles ist durchaus positiv zu werten. Dazu gehört die häufige Einbindung des behandelnden Spezialisten in Referenzzentren und multidisziplinäre, das heißt fächerübergreifende Teams. Wie bereits erwähnt, besteht in Deutschland für ersteres leider noch erheblicher Nachholbedarf. Auch der verhältnismäßig häufige Kontakt zu Endokrinologie-Assistentinnen ist erfreulich, doch hier ist die deutsche Situation wegen der relativ geringen Anzahl entsprechender Assistentinnen ebenfalls unbefriedigend.

Die Antworten zur Diagnosestellung unterstreichen die Bedeutung spezialisierter, insbesondere endokrinologischer, aber auch genetischer Behandlung. Als höchst erfreulich zu bewerten ist, dass die Betroffenen überwiegend mit der MEN-Behandlung zufrieden sind und offenbar auch die Adhärenz gut funktioniert.

Die Dauer vom Beginn der Symptome bis zur korrekten Diagnose ist mit durchschnittlich 2 Jahren für eine seltene Erkrankung zwar eher kurz. Da frühe Diagnose und Behandlung aber gerade bei MEN von großer Bedeutung sind, sollte hier an weiteren Verbesserungen gearbeitet werden. Unerfreulich ist für die Betroffenen der lange Weg zum Arzt mit im Schnitt 60 Minuten für eine Strecke.

Die Antworten auf die letzten Fragen unterstreichen die große Bedeutung der Selbsthilfe in diesem Bereich. Hier sollten weitere Anstrengungen unternommen werden, um Patientengruppen flächendeckend in allen Ländern einzuführen und die bereits bestehenden Gruppen bekannter zu machen.

Christian Schulze Kalthoff
 

Link zu den Referenznetzwerken:

https://endo-ern.eu/patients/endo-ern-patient-representatives/

Weitere Informationen:

https://ec.europa.eu/health/ern_en