Es überwiegt die Dankbarkeit

Eine Akromegalie-Patientin erzählt von einem glücklichen Zufall, durch den ihre Krankheit entdeckt wurde.

Alles begann mit einer harmlosen Untersuchung bei meinem Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Ich wollte eine Verordnung für eine logopädische Behandlung und stellte mich nichts ahnend bei ihm vor. Der Arzt betrachtete mich länger, stellte mir ein paar Fragen, die ich allesamt bejahte. Er empfahl mir dann, mich demnächst bei einem Endokrinologen vorzustellen, und gab mir noch die nächstgelegene Adresse eines endokrinologischen Zentrums mit.

Symptome

So begann meine Geschichte. Vieles was dann folgte, ist Menschen mit einem hormonaktiven Hypophysenadenom (Akromegalie) nur allzu bekannt: Wachstumshormon sowie IGF-1 sind erhöht, man ist geschockt, alles bricht über einen herein. Man erinnert sich, wann man zuerst seinen athletischen Körperbau bemerkt hat, ohne dass man dafür viel tun musste, und sich insgeheim wunderte. Die großen Hände, die man plötzlich auf Fotos wahrnimmt, die Schuhe, die einem plötzlich nicht mehr passen, was man auf die von vielen Bergtouren gemarterten ausgetretenen Fußgewölbe schiebt. Und die Bergkameraden, die erzählen, dass sie auch jedes Jahr größere Bergschuhe brauchen und dass das normal sei. Der Unterkiefer, der so schleichend, aber gleichzeitig so plötzlich so viel größer ist als der Oberkiefer. Man kann seinen Biss auf einmal nicht mehr komplett schließen, das Sprechen wird lispeliger, man sieht plötzlich

die Nase in seinem Blickfeld und denkt sich, dass mit den Augen etwas nicht stimmen muss. Der Augenarzt kann aber nichts finden, alles in Ordnung usw. Man findet diese körperlichen Veränderungen reichlich komisch, kommt aber immer auf einleuchtende Erklärungen für fast alles. Das andere nimmt man freudig hin, zum Beispiel den muskulösen Körper. Es klingt verrückt: Aber nach dem ersten Schock und der plötzlichen Fremdbestimmtheit durch Krankenhaus, Blutuntersuchungen etc. habe ich gedacht, dass es mich wundert, so lange gesund geblieben zu sein.

Ich hatte eine sehr traumatische Pubertät: Geschwister, die mich unterdrückten, ein cholerischer Vater, eine hilflose Mutter, die mit allem überfordert war. Die Dynamik und die Folgen, die daraus erwuchsen, hatten mir als Teenager sehr hart zugesetzt. Im jungen Erwachsenenalter und mit dem Auszug aus dem Elternhaus kamen so manche traumatische Erinnerungen schlagartig und immer heftiger in mein Bewusstsein zurück. Der Tumor hat in meinem Leben vieles angestoßen, was ich ohne Krankheit nicht angegangen wäre.

Operation und Hormonersatztherapie

Die Operation habe ich ohne Begleitung angetreten. Erst nachdem es mir etwas besser ging, hat mich eine Freundin besucht. Einige Freunde haben sich ganz plötzlich nicht mehr gemeldet, als ich das böse Wort „Tumor” gesagt hatte. Schon vor der Operation habe ich eine Psychoanalyse begonnen. Ich hatte die Vorstellung, dass es zu einseitig wäre, den Tumor im Kopf beseitigen zu lassen, aber den „Tumor” auf der Seele links liegen zu lassen. Mit und nach dieser Analyse habe ich mich befreit gefühlt und war in meiner Erinnerung nicht mehr so verbittert. Ein Jahr nach der Operation geht es mir jetzt deutlich besser. Nach dem hormonellen Durcheinander hat sich der Körper ein wenig eingependelt. Schlimme Phasen der Lethargie oder eine schwierige depressive Phase waren der noch nicht optimalen Dosierung des Cortisols und der Schilddrüsenhormone geschuldet.

Ich habe mittlerweile ein Körpergefühl gefunden, mit dem ich die Cortisol-Dosierung nun etwas dynamischer angehen kann; ich jogge wieder, gehe wieder in die Berge, nachdem der letzte Bergsommer im Anschluss an die OP für mich ausgefallen war. Zwei bis drei Monate nach der Operation, als ich das erste Mal wieder zum Klettern ging, kam ich in eine kleine Addison-Krise. Der Körper konnte mit der körperlichen Belastung beim Sport noch nicht umgehen und ich hatte vermutlich für diesen Zweck auch nicht genügend Cortisol genommen. Nach einer mehr oder weniger anstrengenden Kletterroute wurde ich ziemlich plötzlich schlapp und lethargisch. Ich beendete sofort das Klettern, sicherte nur noch meinen Partner und legte innerhalb von einer halben Stunde zweimal Cortisol nach. Den Rest des Tages konnte man mit mir nichts mehr anfangen, aber es ist nochmal gut gegangen.

Dieses Erlebnis war allerdings ganz wichtig für mich: Als ich nach der OP entlassen wurde, wurde ich von der Stationsärztin belehrt, dass ich niemals mein Cortisol vergessen dürfe. Sie schickte mich anschließend in die Ambulanz für eine zweite Belehrung und ich bekam den Notfall-Ausweis. Die gut gemeinte Belehrung des Endokrinologen dort war etwas zu dramatisch und er redete mir ins Gewissen, dass ich mich sofort in die Notfallaufnahme begeben müsse, wenn ich Durchfall oder Erbrechen hätte. Diese zwei Warnungen haben mich so beeindruckt, dass ich die ersten Tage zuhause totale Panik vor dem Einschlafen hatte, das Telefon neben mein Bett stellte und den Notfallausweis daneben. Ich hatte die Vorstellung dass so eine Addison-Krise schlagartig hereinbricht, wenn ich versehentlich und unabsichtlich nicht genug Cortisol genommen hatte.

Trotz gelegentlicher Trauer unheimlich dankbar

Manchmal trauere ich, wenn ich daran denke, dass diese Krankheit niemals ausheilt und ich von so vielen Medikamenten lebenslang abhängig sein werde. Auch kämpfe ich gegen so manche unwillkommene Nebenwirkung der Medikamente: Ich habe seit der Operation 10 kg zugenommen, habe Haarausfall, Hitzewallungen. Ich würde so gerne wieder richtig beißen können, die lebenslange Angst, dass der Tumor vielleicht wieder wachsen könnte etc.

Es überwiegt aber die Dankbarkeit. Ich bin dem Schicksal unheimlich dankbar, dass der Tumor zufällig entdeckt wurde und ich sofort operiert werden konnte. Ich bin dankbar dafür, dass ich in einem Medizin-Hightech-Land lebe und mir geholfen werden konnte. Ich bin dankbar, dass mein Sehnerv vom großen Tumor (in einer Richtung 6 cm lang) verschont geblieben ist. Ich bin dankbar, dass es mein Somatostatin-Analogon gibt, dass den Tumor laut dem bildgebenden Verfahren Magnetresonanztomographie immer noch schrumpfen lässt. Ich muss mir keine Sorgen machen, wie ich an Medikamente komme, die für mich lebensnotwendig sind. Was machen eigentlich Menschen mit dieser Erkrankung, die in einem Land leben, in dem es um die medizinische Versorgung schlechter bestellt ist, als in dem Land, in dem ich zufällig leben darf ...?

Und wenn ich eines fest beschlossen habe, dann dass ich kein Rezidiv haben werde und keine Spätfolgen.