COVID-19 – Die neue Gefahr

Viele Hypophysen- und Nebennieren-Patienten sind zurzeit durch COVID-19 sehr verunsichert. Wir sprachen mit Prof. Dr. Christian Apfelbacher, Inhaber der Professur für Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung an der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg, über Risiken und Hintergründe der Pandemie.

GLANDULA: Die Verläufe bei COVID-19 scheinen, auch unabhängig von Vorerkrankungen, individuell sehr unterschiedlich zu sein. Wie stark ist dies aus Ihrer Sicht zu gewichten? Sie sind kein Experte für Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen, aber vielleicht haben Sie auch Vermutungen zu den Risiken in Verbindung mit diesen Krankheitsbildern.

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch, dass die normale Versorgung von Menschen mit diesen Krankheitsbildern nicht durch den Fokus auf COVID-19 vernachlässigt werden sollte. Da sehe ich auch Risiken für die Patientinnen und Patienten, die wiederum selbst sehr stark verunsichert sind und sich die Frage stellen: Soll ich weiterhin in gewohnter Weise zu meinem behandelnden Arzt gehen? Ich denke, dass aufgrund der Komplexität dieser neuen Virus-Erkrankung – wir gehen ja auch inzwischen eher von einer systemischen, also den gesamten Organismus betreffenden Erkrankung als von einer reinen Atemwegserkrankung aus – Patientinnen und Patienten mit ernsthaften Vorerkrankungen dabei ein erhöhtes Risiko für schwerere Verläufe haben. Auch wenn wir noch keine ausreichende Evidenz dazu haben, inwieweit SARS-CoV-2 konkret auf Nebennieren oder Hypophyse einwirkt, halte ich es für sinnvoll, vorsichtig zu sein, sollte eine Vorerkrankung bestehen. Der tägliche Zuwachs an wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist enorm. Vielleicht können wir in einigen Monaten konkreter einschätzen, auf welche Vorerkrankungen man noch intensiver achten muss, wenn es um Schutz vor einer Infektion mit SARSCoV-2 geht.

GLANDULA: Gibt es neben den bekannten Tipps und Vorgaben (Sicherheitsabstand, allgemeine Vorsicht im Umgang mit Mitmenschen, Schutzmasken in bestimmten Situationen, Niesen in die Armbeuge) noch weitere Möglichkeiten, wie Gefährdete sich selbst und ihre Umgebung schützen können?

Die allgemein bekannten und auch sinnvollen Regeln (Husten-/Niesetikette, Händehygiene, Abstand halten, in geschlossenen Räumen regelmäßig und intensiv lüften) sind meines Erachtens da ausreichend. Wo man vielleicht ein Augenmerk darauflegen sollte, dass die notwendigen Medikamente zuhause ausreichend vorhanden sind und man von Freunden und Verwandten versorgt werden kann. Und viele der sonst alltäglich kleinen Tätigkeiten dauern länger, beispielsweise das Einkaufen unter Einhaltung der Abstandsregel. Man sollte also mehr Zeit einplanen, damit man sich nicht unter Druck setzt. Wenn ein Risiko aufgrund einer ernsthaften Vorerkrankung besteht, ist es sinnvoll, einvernehmliche Lösungen mit dem Arbeitgeber zu finden; unabhängig davon, dass gesamtgesellschaftlich das Ziel sein sollte alle Maßnahmen (technisch, organisatorisch, persönlich) zu treffen, damit wieder für alle Menschen Teilhabe auch am Arbeitsleben ermöglicht wird. Unter Einhaltung sinnvoller Infektionsschutzmaßnahmen natürlich.

GLANDULA: Die erwähnten Schutzmasken sind nicht unumstritten. Jenseits medizinischer Masken, die dem medizinischen Personal vorbehalten sein sollen, ist ihr Nutzen recht begrenzt. Bisweilen wird befürchtet, dass sie eine falsche Sicherheit vermitteln könnten. Wie sehen Sie das?

So eine Mund-Nasen-Bedeckung löst einerseits ein Gefühl aus, dass wir zu den Menschen, die sie tragen, doch auch ein wenig auf Abstand gehen sollten. Andererseits wird eventuell eine Haltung gefördert, die sagt: Ich schütze meine Umwelt durch das Tragen einer Maske, dann muss ich es mit dem Abstand nicht mehr so genau nehmen. Eine aktuell in der Zeitschrift Lancet veröffentlichte systematische Übersichtsarbeit (Chu, Akl et al. 2020) hat unteranderem untersucht, ob das Tragen von Masken zum Selbstschutz oder zur Vermeidung der Verbreitung von Atemwegserkrankungen einen Nutzen hat. Eine erste Erkenntnis ist, dass professionelle mehrlagige Masken aus Textilvlies oder ähnlichen Materialien einen höheren Schutz bieten als Masken aus nur einer Schicht. Auch ein Augenschutz scheint ergänzend sinnvoll. Auch das Abstand halten (mindestens 2 Meter) zeigt positive Wirkung auf die Verhinderung der Ausbreitung des Virus. Wir brauchen hierzu aber noch mehr Daten, sagen auch die Autoren. Abstand halten ist daher weiterhin das Gebot der Stunde. „Ich schütze Dich, Du schützt mich“ sollte dahingehend unsere Maxime sein. Zum Thema Maske ist interessant, was ich im Rahmen meiner Forschungsaufenthalte in Asien erlebt habe. In Ländern wie Singapur oder Südkorea ist das Tragen einer Maske z. B. bei Symptomen einer Erkältung eine Höflichkeitsgeste gegenüber den Menschen in der direkten Umgebung, die man nicht infizieren möchte.

GLANDULA: Der Umgang mit der Pandemie und auch die Ansteckungsraten in den einzelnen Ländern sind recht unterschiedlich. Wo sehen Sie Fehler, wo sehen Sie sinnvolle Vorgehensweisen?

Das kann man nicht so pauschal sagen, da man nur schwer Aussagen über die Wirkung von einzelnen Maßnahmen in der – sagen wir – erfolgreichen Bewältigung der Corona-Pandemie treffen kann. Momentan spricht viel dafür, dass sogenannte superspreading events wie Fußballspiele, Partys in Nachtklubs oder auch das Feiern von Gottesdiensten mit vielen Menschen eine große Rolle spielen könnten. Massenveranstaltungen wieder zuzulassen, sehe ich noch auf längere Zeit nicht, obwohl ich persönlich das als häufiger Besucher von Fußballspielen und Kongressen natürlich bedauere. Von Ansteckungsraten können wir im Moment auch noch gar nicht sprechen, da wir noch keine genauen Aussagen zur Anzahl der Infizierten haben. Wir kennen nur Test-Positive.

GLANDULA: Insbesondere im Internet sind Verschwörungstheorien zu COVID-19 enorm populär. Oft wird dabei behauptet, dass COVID-19 entweder gar nicht existiert oder zumindest von der Gefährlichkeit her weit übertrieben dargestellt wird. Bisweilen werden solche Behauptungen sogar von Medizinern aufgestellt. Was ist von diesen Darstellungen zu halten?

Die Berichte aus Kliniken, die uns erreichen, zeichnen eher ein anderes Bild: Viele Patientinnen und Patienten mit diesem Krankheitsbild (COVID19) liegen auf Intensivstationen und kämpfen ums Überleben. Es scheint mir eine Art Bewältigungsstrategie mancher Menschen zu sein, die Existenz von COVID-19 in Frage zu stellen. Denn was es nicht gibt, macht natürlich auch keine Angst. Von Falschnachrichten und Verschwörungstheorien halte ich gar nichts. Wir müssen uns hier als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klar abgrenzen und auf die Gefahr hinweisen, die von Fake-News ausgehen.

GLANDULA: Wie kann man der großen Popularität von Falschbehauptungen zu COVID-19 entgegenwirken? Die Anhänger solcher Theorien scheinen sachlichen Argumenten oft wenig zugänglich zu sein. Sehen Sie da wirklich eine große Popularität? Ich glaube, dass der Großteil der Bevölkerung in Deutschland sich bisher vernünftig und besonnen mit COVID-19 auseinandergesetzt hat. Wir bereiten im Kompetenznetz Public Health wissenschaftliche Erkenntnisse für Institutionen und Entscheidungsträger auf. Die Richtigstellung solcher Falschbehauptungen mit fachlich fundierten Erkenntnissen ist möglicherweise nicht bei allen Zielgruppen gleich wirksam. Schaden kann sie nicht. Ich denke, dass einige dieser Behauptungen im Umlauf emotional sehr stark aufgeladen sind. Richtigstellungen sollten von unabhängigen wissenschaftlichen oder journalistischen Institutionen erfolgen. Diese sollten gestärkt und unterstützt werden.

GLANDULA: Wann glauben Sie, dass mit einem wirksamen und in puncto Risiken vertretbaren Impfstoff zu rechnen ist?

Weltweit laufen zahlreiche Studien zu Verträglichkeit und Wirksamkeit von Impfstoffen. Ich glaube allein in Deutschland arbeiten knapp zehn verschiedene Forschergruppen an einem Impfstoff. Nicht nur dieser Punkt ist allerdings entscheidend, sondern dann auch Produktionsund Verteilungskapazität. Eine zeitliche Prognose zur Verfügbarkeit eines Impfstoffes möchte ich zu diesem Zeitpunkt nicht machen. Die Hoffnung wäre, dass im Frühjahr 2021 ein Impfstoff verfügbar ist.

GLANDULA: Wie beurteilen Sie allgemein die Perspektiven im Umgang mit der Pandemie? Wann ist aus Ihrer Sicht wieder eine völlige Normalität im Alltag zu erwarten?

Diese Frage ist sehr sehr schwer zu beantworten. Es hängt alles vom Aufbau der sogenannten Herdenimmunität in der Bevölkerung ab. Diese kann durch Infektion und/ oder Impfung eines großen Teils der Bevölkerung erreicht werden. Wann werden wir das erreicht haben? Das vermag im Moment ehrlicherweise niemand vorhersagen. Dann stellt sich auch noch die Frage, wie lange  die Immunität aufrechterhalten wird. Momentan wird ja viel über die „neue Normalität“ gesprochen. Diesen Begriff mag ich zwar nicht – denn was ist schon normal? – aber vielleicht müssen wir über Jahre mit Hygiene- und Abstandsregeln leben. Die Herausforderung wird dann sein: Welche Praktiken des sozialen Lebens können wir mit diesen Regeln entwickeln?

GLANDULA: Wie schätzen Sie die gesellschaftlichen Auswirkungen ein? Wird COVID-19 unsere Gesellschaft dauerhaft verändern?

Aktuell sehe ich die durch die Kontaktbeschränkungen verursachte soziale Isolation insbesondere für ältere Menschen, für SingleHaushalte und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im HomeOffice als eine der bedenklichen Auswirkungen. Die psychosoziale Gesundheit leidet darunter. Auch die Veränderungen wirtschaftlicher Rahmenbedingungen können mittel- und langfristig zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen, z. B. durch Armut, Arbeitslosigkeit oder veränderten Arbeitsbedingungen. Durch das Instrument der Gesundheitsfolgenabschätzung, englisch health technology assessment, können wir derzeit viele Daten und Erkenntnisse sammeln, deren Ergebnisse dann von Entscheidungstragenden zum Gegensteuern genutzt werden sollten. Im Umgang miteinander werden wir wohl noch längere Zeit als Gesellschaft auf Abstand leben müssen. Das kann aber auch Chancen eröffnen, dass wir uns anderweitig näherkommen.

GLANDULA: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Interview:
Christian Schulze Kalthoff
Wir danken Philipp Drewitz für die Unterstützung